EUROPÄISCHER GERICHTSHOF
IN NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Aktenzeichen: C - 456/06
Entscheidung vom 17. April 2008
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Oktober 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2006, in dem Verfahren
Peek & Cloppenburg KG
gegen
Cassina SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters G. Arestis, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász und J. Malenovský (Berichterstatter), Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. November 2007,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Peek & Cloppenburg KG, vertreten durch Rechtsanwalt A. Auler,
- der Cassina SpA, vertreten durch Rechtsanwalt A. Bock,
- der polnischen Regierung, vertreten durch E. Ośniecką-Tamecką als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch H. Krämer und W. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. Januar 2008 folgendes
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. L 167, S. 10).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Peek & Cloppenburg KG (im Folgenden: Peek & Cloppenburg) und der Cassina SpA (im Folgenden: Cassina) über die öffentliche Zurverfügungstellung und die Ausstellung von Möbeln, durch die nach Ansicht von Cassina in ihr ausschließliches Verbreitungsrecht eingegriffen wird.
Rechtlicher Rahmen - Völkerrecht
Der Urheberrechtsvertrag der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) (im Folgenden: WCT Vertrag) und der WIPO-Vertrag über Darbietungen und Tonträger (im Folgenden: WPPT Vertrag), die am 20. Dezember 1996 in Genf angenommen wurden, sind mit Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 (ABl. L 89, S. 6) im Namen der Gemeinschaft genehmigt worden.
Art.6 des WCT Vertrags mit der Überschrift »Verbreitungsrecht« bestimmt:
»(1) Die Urheber von Werken der Literatur und Kunst haben das ausschließliche Recht zu erlauben, dass das Original und Vervielfältigungsstücke ihrer Werke durch Verkauf oder sonstige Eigentumsübertragung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
(2) Dieser Vertrag berührt nicht die Freiheit der Vertragsparteien, gegebenenfalls zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen sich das Recht nach Absatz 1 nach dem ersten mit Erlaubnis des Urhebers erfolgten Verkauf des Originals oder eines Vervielfältigungsstücks oder der ersten sonstigen Eigentumsübertragung erschöpft.«
Nach Art. 8 des WPPT Vertrags mit der Überschrift »Verbreitungsrecht« haben ausübende Künstler ein ausschließliches Recht zu erlauben, dass das Original und Vervielfältigungsstücke ihrer auf Tonträgern festgelegten Darbietungen durch Verkauf oder sonstige Eigentumsübertragung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Art. 12 des WPPT Vertrags sieht ein entsprechendes Recht für die Hersteller von Tonträgern vor.
Gemeinschaftsrecht
In den Erwägungsgründen 9 bis 11, 15 und 28 der Richtlinie 2001/29 heißt es:
»(9) Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. [...]
(10) Wenn Urheber und ausübende Künstler weiter schöpferisch und künstlerisch tätig sein sollen, müssen sie für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten, was ebenso für die Produzenten gilt, damit diese die Werke finanzieren können. [...]
(11) Eine rigorose und wirksame Regelung zum Schutz der Urheberrechte und verwandten Schutzrechte ist eines der wichtigsten Instrumente, um die notwendigen Mittel für das kulturelle Schaffen in Europa zu garantieren und die Unabhängigkeit und Würde der Urheber und ausübenden Künstler zu wahren.
[...]
(15) Die Diplomatische Konferenz, die unter der Schirmherrschaft der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) im Dezember 1996 stattfand, führte zur Annahme von zwei neuen Verträgen, dem [WCT Vertrag] und dem [WPPT Vertrag] ... Die vorliegende Richtlinie dient auch dazu, einigen dieser neuen internationalen Verpflichtungen nachzukommen.
[...]
(28) Der unter diese Richtlinie fallende Urheberrechtsschutz schließt auch das ausschließliche Recht ein, die Verbreitung eines in einem Gegenstand verkörperten Werks zu kontrollieren. Mit dem Erstverkauf des Originals oder dem Erstverkauf von Vervielfältigungsstücken des Originals in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erschöpft sich das Recht, den Wiederverkauf dieses Gegenstands innerhalb der Gemeinschaft zu kontrollieren. [...]«
Art. 4 der Richtlinie mit der Überschrift »Verbreitungsrecht« lautet:
»(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zusteht, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.
(2) Das Verbreitungsrecht erschöpft sich in der Gemeinschaft in Bezug auf das Original oder auf Vervielfältigungsstücke eines Werks nur, wenn der Erstverkauf dieses Gegenstands oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erfolgt.«
Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 92/100/EWG des Rates vom 19. November 1992 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums (ABl. L 346, S. 61) bestimmt:
»(1) In Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieses Kapitels sehen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich Artikel 5 das Recht vor, die Vermietung und das Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke [...] zu erlauben oder zu verbieten.
(2) Für die Zwecke dieser Richtlinie bedeutet »Vermietung« die zeitlich begrenzte Gebrauchsüberlassung zu unmittelbarem oder mittelbarem wirtschaftlichen oder kommerziellen Nutzen.«
Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 92/100 sehen die Mitgliedstaaten »für ausübende Künstler [...], Tonträgerhersteller [...], Hersteller der erstmaligen Aufzeichnung von Filmen [...] [und] Sendeunternehmen [...] das ausschließliche Recht vor, [...] Schutzgegenstände sowie Kopien davon der Öffentlichkeit im Wege der Veräußerung oder auf sonstige Weise zur Verfügung zu stellen (nachstehend »Verbreitungsrecht« genannt)«.
Die Richtlinie 92/100 ist durch die Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums (ABl. L 376, S. 28) aufgehoben worden. Die vorstehend genannten Bestimmungen der Richtlinie 92/100 sind ähnlich lautend in die Richtlinie 2006/115 übernommen worden.
Nationales Recht
§ 15 Abs. 1 des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273) sieht vor:
»Der Urheber hat das ausschließliche Recht, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten; das Recht umfasst insbesondere
[...]
2. das Verbreitungsrecht (§ 17)
[...]
§ 17 Abs. 1 des Urheberrechtsgesetzes bestimmt:
»Das Verbreitungsrecht ist das Recht, das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werkes der Öffentlichkeit anzubieten oder in Verkehr zu bringen.«
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Cassina produziert Polstermöbel. Ihre Kollektion enthält Möbelstücke, die nach Entwürfen von Charles-Édouard Jeanneret, genannt Le Corbusier, gefertigt sind. Dazu gehören die Sessel und Sofas der Reihen LC 2 und LC 3 sowie das Tischsystem LC 10 P. Cassina hat einen Lizenzvertrag über die Herstellung und den Vertrieb dieser Möbel geschlossen.
Peek & Cloppenburg vertreibt bundesweit in Filialen Damen- und Herrenoberbekleidung. In einem ihrer Geschäfte hat sie mit Sesseln und Sofas der Reihen LC 2 und LC 3 und einem Couchtisch aus dem Tischsystem LC 10 P ausgestattete Ruhezonen für Kunden eingerichtet. In einem Schaufenster ihrer Niederlassung hat Peek & Cloppenburg einen Sessel der Reihe LC 2 zu Dekorationszwecken ausgestellt. Diese Möbel stammen nicht von Cassina, sondern wurden ohne deren Zustimmung von einem Unternehmen in Bologna (Italien) hergestellt. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts unterlagen diese Möbel zum damaligen Zeitpunkt in dem Mitgliedstaat, in dem sie hergestellt wurden, keinem urheberrechtlichen Schutz.
Da Cassina der Auffassung war, dass Peek & Cloppenburg dadurch in ihre Rechte eingegriffen habe, nahm sie Peek & Cloppenburg vor dem Landgericht Frankfurt auf Unterlassung und Auskunftserteilung insbesondere über den Vertriebsweg der Möbel in Anspruch. Außerdem beantragte Cassina Feststellung der Schadensersatzverpflichtung von Peek & Cloppenburg.
Nachdem das Landgericht der Klage von Cassina antragsgemäß stattgegeben und das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil im Wesentlichen bestätigt hatte, legte Peek & Cloppenburg Revision beim Bundesgerichtshof ein.
Für den Bundesgerichtshof, der davon ausgeht, dass Cassina ein ausschließliches Recht zur Verbreitung im Sinne von § 17 des Urheberrechtsgesetzes zusteht, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits darauf an, ob Peek & Cloppenburg mit den erwähnten Verhaltensweisen in dieses Recht eingegriffen hat.
Eine Verbreitung liege regelmäßig vor, wenn das Original oder Vervielfältigungsstücke aus der internen Betriebssphäre durch Überlassung des Eigentums oder des Besitzes der Öffentlichkeit zugeführt würden. Dabei könne die Überlassung des Besitzes für einen nur vorübergehenden Zeitraum genügen. Es stelle sich jedoch die Frage, ob auch von einer Verbreitung an die Öffentlichkeit auf sonstige Weise im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 auszugehen sei, wenn urheberrechtlich geschützte Werkstücke ohne Übertragung des Eigentums oder des Besitzes und damit ohne Übertragung der tatsächlichen Verfügungsgewalt der Öffentlichkeit dadurch zugänglich gemacht würden, dass diese wie im Ausgangsverfahren zur Benutzung zur Verfügung gestellt würden, indem sie in Verkaufsräumen aufgestellt würden.
Zweifelhaft sei auch, ob es sich auch dann um eine Verbreitung an die Öffentlichkeit auf sonstige Weise nach dieser Bestimmung handele, wenn das Werkstück lediglich im Schaufenster eines Geschäfts gezeigt werde, ohne zum Gebrauch überlassen zu werden.
Außerdem stelle sich die Frage, ob die Erfordernisse des in den Art. 28 EG und 30 EG verankerten Schutzes des freien Warenverkehrs unter den Gegebenheiten des Ausgangsverfahrens nicht die Ausübung des Verbreitungsrechts beschränkten.
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. a) Ist von einer Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form auf sonstige Weise im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 auszugehen, wenn Dritten der Gebrauch von Werkstücken urheberrechtlich geschützter Werke ermöglicht wird, ohne dass mit der Gebrauchsüberlassung eine Übertragung der tatsächlichen Verfügungsgewalt über die Werkstücke verbunden ist?
b) Liegt eine Verbreitung nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 auch vor, wenn Werkstücke urheberrechtlich geschützter Werke öffentlich gezeigt werden, ohne dass Dritten die Möglichkeit zur Benutzung der Werkstücke eingeräumt wird?
2. Bejahendenfalls:
Kann der Schutz der Warenverkehrsfreiheit der Ausübung des Verbreitungsrechts in den vorgenannten Fällen entgegenstehen, wenn die präsentierten Werkstücke in dem Mitgliedstaat, wo sie hergestellt und in Verkehr gebracht wurden, keinem urheberrechtlichen Schutz unterliegen?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung
Mit Schreiben, das am 7. März 2008 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat Cassina nach den Schlussanträgen der Generalanwältin die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß Art. 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt. Cassina macht u. a. geltend, dass die Generalanwältin ihre Schlussanträge auf mehrere falsche Argumente gestützt, die Rechtsprechung des Gerichtshofs verkannt und nicht alle maßgeblichen Umstände des Rechtsstreits berücksichtigt habe. Cassina möchte dem Gerichtshof deshalb zusätzliche Informationen vorlegen.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass weder die Satzung des Gerichtshofs noch seine Verfahrensordnung vorsehen, dass die Beteiligten Stellungnahmen zu den Schlussanträgen des Generalanwalts abgeben können (vgl. insbesondere Urteil vom 30. März 2006, Emanuel, C 259/04, Slg. 2006, I 3089, Randnr. 15).
Der Gerichtshof kann zwar von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auf Antrag der Parteien die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach Art. 61 seiner Verfahrensordnung anordnen, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht (vgl. u. a. Urteile vom 13. November 2003, Schilling und Fleck-Schilling, C 209/01, Slg. 2003, I 13389, Randnr. 19, und vom 17. Juni 2004, Recheio - Cash & Carry, C 30/02, Slg. 2004, I 6051, Randnr. 12).
Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin jedoch der Auffassung, dass er über alle Angaben verfügt, die er für eine Beantwortung der Vorlagefragen benötigt.
Daher besteht keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anzuordnen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage, Buchst. a und b
Die erste Frage, Buchst. a und b, des vorlegenden Gerichts geht im Wesentlichen dahin, ob der Begriff der Verbreitung des Originals eines Werks oder eines Vervielfältigungsstücks davon an die Öffentlichkeit auf andere Weise als durch Verkauf im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass er zum einen erfasst, wenn der Öffentlichkeit der Gebrauch von Werkstücken eines urheberrechtlich geschützten Werks ermöglicht wird, ohne dass mit der Gebrauchsüberlassung eine Übertragung des Eigentums verbunden ist, und zum anderen, wenn diese Werkstücke öffentlich gezeigt werden, ohne dass die Möglichkeit zur Benutzung der Werkstücke eingeräumt wird.
Weder Art. 4 Abs. 1 noch irgendeine andere Bestimmung der Richtlinie 2001/29 präzisiert hinreichend den Begriff der Verbreitung eines urheberrechtlich geschützten Werks an die Öffentlichkeit. Dagegen wird der Begriff im WCT Vertrag und im WPPT Vertrag klarer definiert.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts nach Möglichkeit im Licht des Völkerrechts auszulegen sind, insbesondere wenn mit ihnen ein von der Gemeinschaft geschlossener völkerrechtlicher Vertrag durchgeführt werden soll (vgl. u. a. Urteile vom 14. Juli 1998, Bettati, C 341/95, Slg. 1998, I 4355, Randnr. 20, und vom 7. Dezember 2006, SGAE, C 306/05, Slg. 2006, I 11519, Randnr. 35).
Fest steht, dass die Richtlinie 2001/29, wie sich aus ihrem 15. Erwägungsgrund ergibt, dazu dient, den Verpflichtungen der Gemeinschaft aus dem WCT Vertrag und dem WPPT Vertrag auf Gemeinschaftsebene nachzukommen. Daher ist der Begriff der Verbreitung in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nach Möglichkeit im Licht der in diesen Verträgen enthaltenen Definitionen auszulegen.
In Art. 6 Abs. 1 des WCT Vertrags wird der Begriff des Verbreitungsrechts der Urheber von Werken der Literatur und Kunst definiert als das ausschließliche Recht, zu erlauben, dass das Original und Vervielfältigungsstücke ihrer Werke durch Verkauf oder »sonstige Eigentumsübertragung« der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus enthalten die Art. 8 und 12 des WPPT Vertrags für das Verbreitungsrecht der ausübenden Künstler und der Hersteller von Tonträgern dieselbe Definition. Somit liegt nach den einschlägigen völkerrechtlichen Verträgen eine Verbreitung nur bei einer Eigentumsübertragung vor.
Da Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 in diesem Zusammenhang von einer Verbreitung »durch Verkauf oder auf sonstige Weise« spricht, ist dieser Begriff im Einklang mit den genannten Verträgen als eine Form der Verbreitung, die mit einer Eigentumsübertragung verbunden sein muss, auszulegen.
Diese Schlussfolgerung ergibt sich zwingend auch aus der Auslegung der Bestimmungen des WCT Vertrags und der Richtlinie 2001/29 über die Erschöpfung des Verbreitungsrechts. Diese ist in Art. 6 Abs. 2 des WCT Vertrags geregelt, der sie an dieselben Rechtshandlungen knüpft wie die in Abs. 1 dieses Artikels genannten. Die Abs. 1 und 2 des Art. 6 des WCT Vertrags bilden daher eine Einheit, die insgesamt auszulegen ist. Beide Bestimmungen beziehen sich explizit auf Handlungen, die mit einer Eigentumsübertragung verbunden sind.
Die Abs. 1 und 2 des Art. 4 der Richtlinie 2001/29 weisen dieselbe Systematik wie Art. 6 des WCT Vertrags auf und sollen diesen umsetzen. Wie Art. 6 Abs. 2 des WCT Vertrags sieht auch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie die Erschöpfung des Verbreitungsrechts für das Original oder für Vervielfältigungsstücke eines Werks beim Erstverkauf dieses Gegenstands oder bei einer anderen erstmaligen Eigentumsübertragung vor. Da Art. 4 der Richtlinie 2001/29 Art. 6 des WCT Vertrags umsetzt und Art. 4 der Richtlinie ebenso wie Art. 6 des WCT Vertrags in seiner Gesamtheit auszulegen ist, ist demnach der Begriff »auf sonstige Weise« in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 in dem Sinn auszulegen, der ihm in Abs. 2 dieses Artikels gegeben wird, d. h., dass er eine Eigentumsübertragung voraussetzt.
Aus dem Vorstehenden folgt, dass unter den Begriff der Verbreitung des Originals eines Werks oder eines Vervielfältigungsstücks davon an die Öffentlichkeit auf andere Weise als durch Verkauf im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 nur Handlungen fallen, die mit einer Übertragung des Eigentums an diesem Gegenstand verbunden sind. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist das bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handlungen jedoch offensichtlich nicht der Fall.
Hervorzuheben ist, dass entgegen dem Vorbringen von Cassina diese Schlussfolgerungen durch die Erwägungsgründe 9 bis 11 der Richtlinie 2001/29 nicht entkräftet werden, wonach die Harmonisierung des Urheberrechts von einem hohen Schutzniveau ausgehen muss, Urheber für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten müssen und die Regelung zum Schutz der Urheberrechte rigoros und wirksam sein muss.
Dieser Schutz kann nämlich nur in dem vom Gemeinschaftsgesetzgeber geschaffenen Rahmen verwirklicht werden. Daher ist es nicht Sache des Gerichtshofs, zugunsten der Urheber neue Rechte zu schaffen, die in der Richtlinie 2001/29 nicht vorgesehen sind, und demnach die Bedeutung des Begriffs der Verbreitung des Originals eines Werks oder eines Vervielfältigungsstücks davon über die vom Gemeinschaftsgesetzgeber vorgesehene Bedeutung hinaus zu erweitern.
Es wäre Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers, gegebenenfalls die Gemeinschaftsvorschriften zum Schutz des geistigen Eigentums zu ändern, wenn er der Auffassung wäre, dass der Urheberschutz durch die geltenden Vorschriften nicht auf einem hinreichend hohen Niveau gewährleistet ist und dass Nutzungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Erlaubnis durch die Urheber unterliegen müssen.
Aus denselben Gründen kann der Argumentation von Cassina nicht gefolgt werden, dass der Begriff Verbreitung des Originals eines Werks oder eines Vervielfältigungsstücks davon deshalb weit auszulegen sei, weil die im Ausgangsverfahren fraglichen Handlungen verwerflich seien, da der Inhaber des Urheberrechts für die Nutzung der Vervielfältigungsstücke seines Werks, das durch die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Vervielfältigungsstücke genutzt würden, geschützt sei, keine Vergütung erhalten habe.
Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass eine Verbreitung des Originals eines Werks oder eines Vervielfältigungsstücks davon an die Öffentlichkeit auf andere Weise als durch Verkauf im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 nur bei einer Übertragung des Eigentums an diesem Gegenstand vorliegt. Folglich stellen weder der bloße Umstand, dass der Öffentlichkeit der Gebrauch von Werkstücken eines urheberrechtlich geschützten Werks ermöglicht wird, noch der Umstand, dass diese Werkstücke öffentlich gezeigt werden, ohne dass die Möglichkeit zur Benutzung der Werkstücke eingeräumt wird, eine solche Verbreitungsform dar.
Zur zweiten Frage
Da die erste Frage verneint wurde, braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Eine Verbreitung des Originals eines Werks oder eines Vervielfältigungsstücks davon an die Öffentlichkeit auf andere Weise als durch Verkauf im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft liegt nur bei einer Übertragung des Eigentums an diesem Gegenstand vor. Folglich stellen weder der bloße Umstand, dass der Öffentlichkeit der Gebrauch von Werkstücken eines urheberrechtlich geschützten Werks ermöglicht wird, noch der Umstand, dass diese Werkstücke öffentlich gezeigt werden, ohne dass die Möglichkeit zur Benutzung der Werkstücke eingeräumt wird, eine solche Verbreitungsform dar.
Unterschriften